Unternehmenswerte - und wie man nicht damit arbeitet.
11. April 2024, 16:58 Uhr | Anne Caspari und Johann Entz-von Zerssen
Viele Unternehmen sind sich der Tatsache bewusst, dass Werte wie Integrität, Vertrauen, Fairness als Attraktoren fungieren, die positives Verhalten am Arbeitsplatz fördern. Doch wie lassen sich Werte etablieren? Zwei Coaches geben Tipps.
Auch macht die Ansammlung zahlreicher Mitarbeitenden einen ‚Code of Conduct‘, also einen Verhaltenskodex, unumgänglich. Vielerorts beinhaltet dieser auch Werte, die wünschenswert sind und sogar für die Beurteilung von Mitarbeitern und Führungskräften herangezogen werden.
Was im organisatorischen Alltag immer wieder passiert, ist, dass Werte in der Hoffnung vorgegeben werden, dass sie ihre generative Wirkung sofort entfalten. Werte werden daher gern in Führungskräfte-Workshops beleuchtet, in Trainings propagiert oder von der Chefetage angestrebt. Auffällig ist dies besonders, wenn ein Change-Projekt angekündigt wird, das darauf aufbaut, neue, bessere Werte zu etablieren: »Wir müssen effektiver, innovativer, unternehmerischer, agiler werden, eine Fehlerkultur aufbauen, eine Familie werden, den Kulturwandel vorantreiben.«
Generelles Unverständnis gegenüber Bedeutung von Werten
Wenn Werte im Vorfeld so und oft auch von oben herab definiert werden, bezeugt das ein generelles Unverständnis dessen, wie Werte entstehen und wirken. Werte sind komplexer Natur und sind daher nicht mit mechanistischen Ansätzen kompatibel. Jeder weiß, dass beispielsweise Vertrauen nicht verordnet werden kann, sondern durch längerfristige Prozesse mit geeigneten Rahmenbedingungen entsteht.
Der Versuch, Werte vorzuschreiben und als rein technische Herausforderung wahrzunehmen, wird daher scheitern. Viele Coaches und Berater werden diesen Moment an Perplexität kennen, wenn ein Kunde wünscht, die Kultur im Unternehmen oder den vielzitierten Mindset zu ändern, so als ob das Drehen an den geeigneten Stellschrauben dies bewirken könne.
Werte, die zum Beispiel in Workshops erarbeitet werden, sind per se nicht falsch, jedoch werden allzu oft die erwünschten oder angelernten Werte abgefragt, die sich auf Webseiten und in Verhaltenskodizes wiederfinden. Dave Snowden, Experte in Complexity Thinking und Knowledge Management, drückt es so aus: »Sobald Du Deine Werte niedergeschrieben hast, hast Du sie verloren.« In anderen Worten: Man zeigt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, was man hören will, ohne wirklich etwas zu ändern. Werden diese Werte dann von der Chefetage nicht vorgelebt, mutieren diese von leitenden Prinzipien zu starren Vorgaben, die eher Lippenbekenntnisse fördern als echtes, wertebasiertes Handeln.
Wie entstehen Werte? – Wertevorgaben versus Werteströme
Des Weiteren sind solche Werte viel zu grobkörnig, als dass sie als echte Leitplanken für das tagtägliche Verhalten dienen können. Hier besteht die Gefahr, organisatorische Wertevorgaben mit den tatsächlichen, gelebten und fein gewobenen »Werteströmen« zu verwechseln. Das wirkliche Organisationsleben ist weitaus reicher und turbulenter als das, was in offiziellen Dokumenten beschrieben wird.
Es lohnt sich also, Werte von einer anderen Perspektive zu betrachten, die ohne mechanistische Metapher auskommt. In diesem Kontext sind Werte Ergebnisse komplexer Interaktionen, Beziehungen und Erfahrungen innerhalb eines menschlichen Systems. Sie entstehen aus dem Zusammenspiel vielfältiger Faktoren, einschließlich individueller Überzeugungen, sozialer Dynamiken und organisatorischer Kulturen.
Sie entstehen aus der Gesamtsumme aller täglichen Interaktionen, Entscheidungen und Erfahrungen aller im Unternehmen. Sie entwickeln sich, während sich das Unternehmen selbst entwickelt. Sie sind damit Ausdruck der kollektiven Intelligenz und des adaptiven Lernens einer Organisation und zeigen, was dem Unternehmen wirklich wichtig ist. Kurz gesagt, Werte sind wie das dynamische Navigationssystem eines Unternehmens, das sich ständig aktualisiert, um es auf dem besten Weg zu halten.
Eine Wertekultur aufbauen
Auf dieser Ebene im Unternehmen mit Werten zu arbeiten, erfordert eine nuancierte Herangehensweise. Bei Organisationsentwicklung, Kulturwandel und Wertediskussionen liegt der Schlüssel darin, mit dem zu arbeiten, was vorhanden ist, statt mit dem, was geschehen sollte. Es geht darum, zu erkennen, welche Werte tatsächlich gelebt werden und die Kultur prägen:
- Wie gehen die Menschen miteinander um?
- Wie gehen Führungskräfte mit den Mitarbeitenden um?
- Welche Werte werden vorgelebt?
- Welche Meeting-Kultur herrscht?
- Darf man Fehler machen?
- Wie wird entschieden?
- Wie wird gelernt?
- Vertrauen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einander?
All dies verrät die unterliegenden fein gesponnenen »Werteströmungen«, die – bewusst oder unbewusst – in ihrer Gesamtheit kulturstiftend wirken.
Coaches und Berater sind prädestiniert dafür, mit ihrer Arbeit auf allen Hierarchie-Ebenen zusammen mit ihren Klienten herauszufinden, welche Werte im Unternehmen derzeit gelebt werden, und welche ideellen und strukturellen Rahmenbedingungen die Entstehung dieser Werte erlaubt haben. Sie erkennen individuelle und kollektive Haltungen, Frustrationen, Ideen, Verbesserungsvorschläge oder auch Pathologien. Sie können das auf den entsprechenden Hierarchieebenen dem System widerspiegeln – und vieles von dem, was lebt, bewusst machen. So erkennt sich das System selbst, um dann handeln zu können. Auf der Basis dieser Bedeutungsfindung (Sensemaking) gilt es dann, auf jeder Hierarchieebene, Prozesse zu gestalten oder Rahmenbedingungen von Beziehungsdynamiken so zu verändern helfen, dass von der Ausgangsposition aus was anderes, neues entstehen kann, was den veränderten Werte-Ansprüchen eher entspricht.
Dieser Artikel wurde im Online Magazin "Computer & Automation" im April 2024 unter der Rubrik "Tips von den Coaches" veröffentlicht.